Industrie

Erforscht

Forschungsnetzwerke gefährdet

Die Entwicklung von smarten Messmethoden zur Qualitätsbeurteilung von Altpapier, biobasierten Barrieren für Papier- und Kartonverpackungen oder faserbasierten Sandwichstrukturen für Flugzeugbordwände sind nur drei Anwendungen, die aus öffentlich geförderten Forschungs- und Entwicklungsvorhaben für die Papierindustrie hervorgegangen sind. Sie sichern – wie viele andere – die Zukunftsfähigkeit und die Wettbewerbsvorteile der Branche. Die Bundesregierung hat die bestehenden Forschungsnetzwerke jetzt zur Disposition gestellt.

 


Titan-Stromverteiler. Ergebnis des Forschungsvorhabens "Entwicklung poröser papiertechnisch hergestellter Titan-Stromverteiler für die PEM-Elektrolyse", an dem die PTS beteiligt war.

Der Weg zu marktfähigen Produkten, Dienstleistungen und/oder Prozessen verlangt hohen Aufwand. Nicht jedes Unternehmen kann das aus eigener Kraft stemmen. Damit auch KMUs in der Lage sind, mitzuhalten, gibt es ö entliche Förderprogramme zur industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF), die meist von Projektträgern organisiert werden. Für Forschung und Transfer im Mittelstand ist die Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen »Otto von Guericke« (AiF) das relevante Netzwerk. Im Juni 2022 hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz den laufenden Vertrag zur Durchführung der IGF gekündigt und erklärt, die Betreuung des IGF-Programms als Projektträgerschaft europaweit auszuschreiben. Seit 01.01.2023 ist eine neue Förderrichtlinie in Kraft, die bis zum 31.12.2026 befristet gilt und eine Neuausschreibung sowie Vergabe bis Ende 2026 abgeschlossen sein wird. In der Papierindustrie weiß man um die große Bedeutung des bestehenden Systems der Gemeinschaftsforschung und befürchtet zukünftige Verwerfungen für das bestehende und bewährte Transfernetzwerk. Welche Bedeutung das IGF-Förderprogramm hat, verdeutlichen die Sichtweisen von teilnehmenden Akteuren:


Dr. Stefan Karrer, Technischer Vorstand der Papierfabrik August Koehler SE, Vorsitzender des Kuratoriums für Forschung und Technik der Papierindustrie und Stiftungsratsvorsitzender des Forschungsinstituts Papiertechnische Stiftung (PTS): »Die IGF ist in allen Bereichen elementarer Baustein für die Ideen der Zukunft in unserer Branche. Die vernetzte und zusammengreifende Forschungsarbeit von Hochschulen, Forschungsinstituten und Unternehmen lässt Wissen und Ideen entstehen, die sich auch gut auf kleine und mittlere Unternehmen transferieren lassen. Zusammen mit den Fördermitteln hat sich hier ein wirkungsvolles System gebildet, das nicht gefährdet werden darf. Die im Raum stehende Neuausschreibung schafft extreme Unsicherheit für ein über Jahre gewachsenes wirkungsvolles und funktionierendes System.«


Professor Michael Bruno Klein, Hauptgeschäftsführer der AiF, teilt die Au assung Karrers und nennt ein Beispiel: »Die gelebte branchen- und themenübergreifende Vernetzung sieht man am IGF-Projekt ›Papiertechnisch hergestellte Stromverteiler für die PEM-Elektrolyse‹, bei dem das Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung aus Dresden, das Zentrum für Brennsto zellen-Technik aus Duisburg und die PTS aus Heidenau einen kostengünstigen und papierbasierten Funktionswerksto für den Einsatz in Brennstoffzellen entwickelt haben. 60 Prozent der IGF-Vorhaben münden in disruptiven und radikalen Innovationen für alle teilnehmenden Branchen. Die AiF muss mit ihren branchenübergreifenden Mitgliedern und Forschungsvereinigungen erhalten bleiben, sonst droht Schaden für das seit 70 Jahren bewährte System der vorwettbewerblichen und themenoffenen Mittelstandsförderung in Deutschland.«


Dr. Thorsten Voss, Vorstand der PTS, nennt Zahlen: »Für die Papierindustrie haben wir im letzten Jahr ca. 2,6 Millionen Euro an IGF-Projektförderung erhalten. Insbesondere bei den anstehenden Aufgaben in der energetischen und digitalen Transformation benötigt die Papierindustrie weiter starke Forschungsförderprogramme, um passende Lösungen für die tiefgreifenden Veränderungen in Wertschöpfungsketten, Produktionsprozessen und Unternehmensstrukturen zu finden. Warum jetzt etablierte Strukturen in Frage gestellt werden und zudem mit der DATI neue entstehen sollen, ist nicht zu erklären.« – bie/gag