Industrie

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Gutes bleibt

1872 – Gründerzeit. Die Veteranen des deutsch-französischen Kriegs zwirbelten ihre Schnurrbärte nach dem Motto »70 – 71 – dabeigewesen«. Wilhelm I. war im Spiegelsaal von Versailles zum Deutschen Kaiser proklamiert worden. Die Schaffung eines einheitlichen nationalen Wirtschaftsraumes ab 1871 und eine wirtschaftsliberale Gesetzgebung mehrten die Zuversicht in eine rasante ökonomische Entwicklung.

Die Industrialisierung in Deutschland lief auf Hochtouren. Alteingesessene Fabriken investierten in neue Maschinen, Unternehmer gründeten neue Betriebe, darunter nicht wenige Papierfabriken. Das war in vielen Branchen die Geburtsstunde für Verbände, mit denen die gemeinsamen Interessen nach aussen vertreten werden sollten und die ihre mitgliedsunternehmen durch gute und schlechte Zeiten bis heute begleiten.


1872 fand sich daher in Frankfurt/Main eine kleine Gruppe von Papierherstellern zusammen, die zu diesem Zweck einen Verein gründen wollten. Zwar hatte es schon 1850 einen Papierhersteller-Verein gegeben, der allerdings wieder eingeschlafen war. Der neue Aufruf zur Gründungsversammlung stieß auf großes Interesse und am 14. Dezember gründeten in Nürnberg 67 Unternehmer den Verein Deutscher Papierfabrikanten.

67 Fabriken mit 95 Maschinen und 12 Bütten

Dem ersten Vorstand gehörten an:  67 Fabriken mit 95 Maschinen und 12 Bütten  In den Annalen des Vereins ist verzeichnet, dass die Gründungsversammlung 67 Fabriken mit 95 Maschinen und 12 Bütten repräsentierte. Es wäre sogar noch ein größerer Zuspruch erwartet worden, wenn die Versammlung zu einer günstigeren Jahreszeit stattgefunden hätte. Als Beitrag – es gab 1872 noch eine Vielzahl von Währungen im Deutschen Reich – wurden 10 Mark oder 5,50 Gulden bzw. 3,10 Taler für jede Maschine oder Büttenmanufaktur festgelegt. 

In der Präsenzliste der Gründungsversammlung finden sich große Namen, die heute nur noch Geschichte sind, aber auch etliche Unternehmen deren Produktionsstandorte heute noch existieren. So etwa: Papierfabrik Unterkochen / Illigsche Papierfabrik / August Köhler, Oberkirch / Barth & Haas, Weißenstein / Georg Leinfelder, Schrobenhausen / Siebersche Papierfabrik, Augsburg / Thodesche Papierfabrik, Heinsberg / Patentpapierfabrik Penig. 

Patriarchen

Mit Ausnahme der Sitzungsprotokolle sind kaum Originaldokumente aus der Gründungszeit vorhanden. In einer Festschrift des Vereins aus dem Jahre 1922 lässt der Autor – gestützt auf Fotografien der damaligen Zeit – seiner Phantasie freien Lauf: »Und was für knorrige Gestalten sind darunter, auf den charaktervollen Zügen zumeist eine wuchtige Würde … Dem einen oder anderen sieht man noch den … Selbstherrscher auf dem heimatlichen Flur, den Herrn und Gebieter im weiten Umkreis seiner Mühle [an]. … Patriarchen!«. Historischen Berichten zufolge nutzten diese den Verband nicht nur als Kommunikationsplattform. Verbandstreffen mit dem entsprechenden Rahmenprogramm waren gesellschaftliche Ereignisse, die zum Teil auch als Heiratsmarkt genutzt wurden.

Kaum war der Verein – der bald in einem repräsentativen Gebäude in Berlin-Charlottenburg residierte – gegründet, mussten die Papierunternehmer die erste Krise bestehen. Die produktiven Überkapazitäten der gesamten Industrie und die wachsende Spekulationsblase führten zu einer Börsenpanik, die im Oktober 1873 im so genannten Gründerkrach endete.

Der Blick in die Vereinsannalen zeigt, dass die Mitgliederzahl kontinuierlich zunahm. Von den 67 Unternehmen des Gründungsjahres wuchs die Zahl der Mitglieder bis 1900 auf 249. Verglichen mit dem Repräsentationsgrad des heutigen Verbandes DIE PAPIERINDUSTRIE, die nach Produktion und Umsatz bei 95 Prozent liegt, war das aber relativ wenig. Um 1900 gab es im damaligen Reichsgebiet rund 1.000 Unternehmen mit 1.150 Werken. Ihre Zahl ging nach dem ersten Weltkrieg – auch als Folge eines beginnenden Konzentrationsprozesses – auf rund 800, bis zum Zweiten Weltkrieg auf 730 Unternehmen mit 840 Betrieben zurück. Gleichzeitig stieg die Zahl der Papier- und Pappemaschinen auf 270 an. In immer weniger Unternehmen mit größeren Betriebsstätten wurden breitere und schnellere Maschinen eingesetzt und größere Mengen Papier, Karton und Pappe produziert.

Die Anpassung an den internationalen Leistungsstandard wurde in der Papierindustrie dabei bereits in den 20er Jahren vollzogen. Während die Branche im Kaiserreich einen nahezu autarken Markt belieferte und zwischen 1900 und 1914 eine Exportquote von 12 Prozent aufwies, musste sie sich nach dem ersten Weltkrieg auf die Konkurrenz der expandierenden nordamerikanischen und skandinavischen Unternehmen einstellen.

Vermehrtes Recycling

In dieser Zeit wurde »der Grundstein für den Qualitätsruf und die Leistungsfähigkeit der deutschen Papierindustrie gelegt«, wie in der Festschrift zum 100jährigen Jubiläum des Verbandes Deutscher Papierfabriken zu lesen ist. Das Altpapierrecycling spielte zu dieser Zeit im Vergleich zu den Primärfaserstoffen Zellstoff und Holzstoff eine noch untergeordnete Rolle. So lag die Einsatzquote von Altpapier als Rohstoff für die Herstellung von neuem Papier Mitte der 20er Jahre bei 10 Prozent. Bis zum Jahr 1936 stieg die Quote auf das Doppelte an. Heute liegt sie bei 79 Prozent.

Bis zum ersten Weltkrieg stieg der Papierverbrauch mit fortschreitender Industrialisierung und Technik, mit den Ansätzen zu einer modernen Werbe- und Verpackungswirtschaft sowie wachsenden kulturellen Ansprüchen auf 25 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Trotz der gravierenden Auswirkungen des verlorenen Krieges und der nachfolgenden Inflation erhöhte sich der Verbrauch weiter – nicht zuletzt aufgrund der aufstrebenden und inspirierenden Kultur der Weimarer Republik, die in den 20er Jahren einen rasanten Aufschwung erlebte.

Gleichschaltung und Krieg

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde die deutsche Wirtschaft schrittweise in Richtung einer Plan- und Kriegswirtschaft organisiert. Die Industrie- verbände wurden auf Reichs- und Branchenebene in »Reichs-« bzw. »Wirtschaftsgruppen« zwangsorganisiert, mit anderen Reichsgruppen in einer »Reichswirtschaftskammer« zusammengefasst und formal dem Reichswirtschaftsministerium unterstellt. Wie der Professor für Zeitgeschichte an der Technischen Universität München Werner Bührer konstatiert, gerieten die Verbände in eine »Zwitterstellung« als »Sprachrohr der Industrie einerseits und Transmissionsstelle staatlichen Willens andererseits«. Ungeachtet dieses Formwandels hätten jedoch insbesondere die kriegswirtschaftlich wichtigen Unternehmerorganisationen ein hohes Maß an personeller und funktioneller Kontinuität bewahren und ihren Einfluss verteidigen können. Private Aufzeichnungen belegen, dass der Papierverband bis zum Kriegsende noch eine rege Gremienarbeit aufwies.

Papier wird Motor der Gesellschaft

Der Zweite Weltkrieg bildete auch in der Papierindustrie eine Zäsur. Mit umfassender Wirtschaftshilfe durch den Marshall-Plan, der Währungsreform von 1948 und dem Willen zum Wiederaufbau gelang in Deutschland ein ungeahnter ökonomischer Aufschwung: Das Wirtschaftswunder. Bis zum Ende der 50er Jahre entwickelte sich die Bundesrepublik zu einer der stärksten Wirtschaftsnationen der Welt, exportstark und mit Vollbeschäftigung.

Durch die Abtrennung Ost- und Mitteldeutschlands hatte die westdeutsche Papierindustrie mit dem Wegfall des größten Teils der Zellstoffwerke und Teilen der Holzschlifferzeugung große Teile ihrer Rohstoffversorgung verloren. Viele Betriebe waren durch Kriegsschäden zerstört und hatten, zum Teil auch durch Demontagen, ihre Leistungsfähigkeit weitgehend eingebüßt. Im Potsdamer Abkommen legten die Siegermächte für Deutschland einen Pro-Kopf-Verbrauch für Papier von 7 Kilogramm fest. Parallel zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung verzeichnete aber auch die Papierindustrie einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung. Ein wichtiger Faktor war auch der Anstieg des Exports. Es entwickelte sich ein langsames, aber stetiges Exportwachstum. 1960 war der deutsche Export 4,5-mal so hoch wie 1950 und das Bruttosozialprodukt hatte sich verdoppelt. In der Papierindustrie stieg die Ausfuhrquote von 3,5 Prozent 1950 auf 10,8 Prozent 1970 und liegt heute bei rund 61 Prozent. 52 Prozent des Verbrauchs werden importiert. 

Bonn und Wiesbaden 

Auch in der Verbandsorganisation der Papierindustrie tat sich etwas. Zunächst als »Treuhandstelle der Zellstoff- und Papierindustrie« mit – Besatzungszonen bedingt – Geschäftssitzen in Bonn und Wiesbaden, siedelte sich der als reine wirtschaftspolitische Interessenvertretung aufgestellte Verband mit der Neubenennung »Verband Deutscher Papierfabriken e. V.« 1952 in einem von dem bekannten Architekten Fritz August Breuhaus de Groot entworfenen Verwaltungsgebäude in der neuen Bundeshauptstadt Bonn an. Neben dem Bundesverband etablierten sich regionale Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände. An der Gewerbeschule im badischen Gernsbach entstand der Nukleus für die zentrale Ausbildungsstätte der deutschen Papierindustrie, das heutige Papierzentrum.

Die regionalen Arbeitgeberverbände der Papierindustrie organisierten sich 1949 in der Arbeitsgemeinschaft der Arbeitgeberverbände der Papiererzeugungsindustrie, der späteren Vereinigung der Arbeitgeberverbände der Deutschen Papierindustrie VAP. Diese hatte ihren Sitz zunächst in Wiesbaden, dann in Bonn, Düsseldorf, wieder Bonn und schließlich im Papierzentrum in Gernsbach.

Ab Mitte der 50er Jahre standen Kapazitätserweiterungen im Vordergrund der Investitionen. Dies begünstigte die Erforschung, Entwicklung und Einsatz modernster Technologien. Die rasche Zunahme des Papierverbrauchs zwischen 1955 und 1965, der Öffnung der Einfuhrbestimmungen und der Neuregelung der Zölle bedeuteten für die inländische Industrie einen starken Konkurrenzdruck, der zu stetigen Qualitäts- und Leistungssteigerungen führte. Der Papiermarkt entwickelte sich zu einem differenzierten Sortenprogramm, das sich nicht zuletzt in der Weiterentwicklung der Druck- und Verarbeitungstechniken zeigte. Im Jahr 1954 wurde in Deutschland das erste maschinengestrichene Papier hergestellt. Diese neue glatte Qualität wies eine besonders gute Bedruckbarkeit und Farbwiedergabe auf und leitete den Aufschwung des Farbdrucks für viele neue Magazin- und Illustriertentitel ein.

Das Bestreben, Papiere durch Streichen und Beschichten zu veredeln, hatte bereits in den 30er Jahren eingesetzt, die maschinelle Verarbeitung wurde jedoch erst mit der Perfektionierung der Veredelungs- und Druckverfahren möglich.

Hatte die Papierindustrie in den 80er Jahren noch eine papierlose Zukunft gefürchtet, zeigte sich schon bald, dass mit Ausgeommen der neuen Computertechnologien, elektronischer Datenverarbeitung, schriftlichem Austausch via E-Mail und Internet zusätzliche Kommunikationsinstrumente entstanden waren, die Papier als Informationsmedium aber nicht überflüssig machten. Erst nach 2010 wirkte sich die zunehmende Digitalisierung von Medien und Werbung signifikant auf den Verbrauch graphischer Papiere aus.

Deutliche Zuwachsraten

Für die Verpackungspapiere bedeuten die neuen Kommunikationsmöglichkeiten deutliche Zuwachsraten. Der E-Commerce beflügelte den Versandhandel. Die bestellten Waren und Produkte werden überwiegend in Papier, Karton und Pappe verpackt. Die zunehmende Zahl von Single- Haushalten fragt kleinere Verpackungen nach – auch das ein Grund für das Wachstum im Verpackungssektor. Mit steigendem Lebensstandard wuchs auch das Umweltbewusstsein der Deutschen. Die Papierindustrie musste sich in vielerlei Hinsicht erklären. Im Zentrum stand dabei in den 90er Jahren die Diskussion um die Forstwirtschaft, die die Primärfasern für die Papierherstellung lieferte. Der Industrie gelang es, unter Vermittlung des VDP hier Brücken zwischen Lieferanten, Kunden, Umweltgruppen und Öffentlichkeit zu schlagen und für sich entsprechende ökologische Standards zu definieren. Gleichzeitig setzte die Industrie immer mehr auf Altpapier.

Die Papierindustrie in Deutschland ist heute die Nr. 1 in Europa. In den vergangenen Jahrzehnten hat sie sich zum größten Papierproduzenten, zur »Papiermaschine Europas« entwickelt. Im weltweiten Vergleich liegt sie an vierter Stelle hinter China, den USA und Japan. Entsprechend groß sind die politischen Herausforderungen, denen sich die Verbandsorganisation stellen muss, um die Interessen ihrer über 100 Mitglieder mit rund 46.000 Beschäftigten zu vertreten.

Einheitsverband in Berlin

Es war somit nur folgerichtig, dass die Industrie zum 1. Januar 2022 die bis dahin parallel organisierten Verbände, den Verband Deutscher Papierfabriken und die Vereinigung der Arbeitgeberverbände der Deutschen Papierindustrie, zum Verband DIE PAPIERINDUSTRIE zusammenführte und den Sitz des Verbandes nach Berlin verlegte.